Fragen und Antworten zum Privatjet-Absturz: Was über Prigoschins mutmaßlichen Tod bekannt ist (2023)

Zwei Monate nach seinem abgebrochenen Marsch auf Moskau soll der Chef der Wagner-Gruppe tot sein. Jewgenij Prigoschin wurde nach einem Flugzeugabsturz nahe der russischen Hauptstadt von seinen Anhängern für tot erklärt. Der Telegram-Kanal »Grey Zone«, den Prigoschin zur Verbreitung seiner Videos nutzte, meldete am Mittwochabend den Tod des Chefs der Söldnertruppe.

Die Luftfahrtbehörde Rosawiazija veröffentlichte eine Passagierliste, auf der Prigoschins Name zu finden war. Alle zehn Insassen der Maschine seien ums Leben gekommen, teilte der russische Zivilschutz mit. Russlands Ermittlungsbehörden haben ein Verfahren wegen Verstoßes gegen die Sicherheitsvorschriften im Luftverkehr eingeleitet. Eine amtliche Bestätigung oder eindeutige Belege für den Tod Prigoschins gibt es noch nicht. Viele Fragen rund um den Absturz und den mutmaßlichen Tod Prigoschins sind noch offen. Ein Überblick über das, was bisher bekannt ist:

DER SPIEGEL

Was soll passiert sein?

Ein Embraer-Privatjet, auf dessen Passagierliste Prigoschin stand, ist am Mittwoch nordwestlich von Moskau im Gebiet Twer abgestürzt. Zur Ursache gab es keine offiziellen Angaben. Augenzeugen berichten von Explosionen, anschließend soll das Flugzeug steil vom Himmel gefallen sein.

In den sozialen Netzwerken gehen Videos herum, die zeigen, wie ein Flugzeug, bei dem es sich offenbar um den Privatjet von Prigoschin handeln soll, senkrecht zu Boden trudelt und in einer großen Rauchwolke verschwindet.

Die Embraer verlor um 18.19 Uhr Ortszeit, eine halbe Stunde nach dem Start, massiv an Höhe. Innerhalb einer halben Minute sank das Flugzeug nach Angaben von Flightradar24 gut zwei Kilometer. Dann hielt es sich einige Sekunden auf der Höhe von rund sechs Kilometern, ehe es abstürzte. Vorher gab es keine Auffälligkeiten beim Flug. Die Trümmer liegen weit verteilt, was für ein Auseinanderbrechen des Flugzeugs vor dem Aufprall spricht.

»Grey Zone« und einige Militärblogger verbreiten die These, dass der Absturz kein Unfall gewesen sei. »Grey Zone« sprach sogar von einem Abschuss durch die russische Flugabwehr. Überprüfen lässt sich diese Behauptung nicht. »Prigoschin starb als Ergebnis der Handlungen von Verrätern Russlands«, hieß es in einem Post.

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Unklar ist, warum Prigoschin überhaupt an Bord der Maschine gewesen sein soll und warum sie offenbar in Richtung Sankt Petersburg unterwegs war. Erst am Montagabend hatte sich der Wagner-Boss offenbar aus der afrikanischen Wüste gemeldet. Das unabhängige russische Medium Agenstwo meldete am Mittwochabend unter Bezug auf eine Quelle aus dem Prigoschin-Umfeld, dieser sei in einem anderen Flieger aus Afrika zurückgekehrt und erst in Moskau in den später abgestürzten Privatjet eingestiegen.

War Prigoschin wirklich an Bord?

Am Abend sorgte zunächst für Verwirrung, dass laut dem Portal Flightradar24 zwei Privatjets rund um Moskau in der Luft waren, die dem Söldnerchef zugeordnet werden. Berichten zufolge ist es nicht ungewöhnlich, dass Prigoschin möglicherweise aus Angst vor Angriffen mehrere Fährten bei seinen Reisen legt.

In diesem Fall waren es die Privatjets mit den Kennungen RA-02795 und RA-02748. RA-02795 stürzte über Twer ab, RA-02748 flog laut Flightradar24 zunächst von Moskau nach Sankt Petersburg und dann wieder zurück. Laut Wagner-nahen Telegram-Kanälen landete der Jet später wieder am Moskauer Flughafen Ostafjewo. Wer im sicher gelandeten Jet gewesen sein soll, ist unklar.

Obwohl er auf der Passagierliste der abgestürzten Maschine stand, ist nicht bewiesen, dass Prigoschin wirklich an Bord der RA-02795 war. Eine Obduktion der Leichen steht noch aus. Eine Verschleierungsaktion, um von der Bildfläche zu verschwinden, kann nicht ausgeschlossen werden. Zumal schon zweimal voreilig über den Tod Prigoschins berichtet wurde. 2019 sollte er beim Absturz eines Frachtflugzeugs in Afrika, wo seine Wagner-Truppe aktiv ist, umgekommen sein. Im vergangenen Jahr wurde sein Tod im Osten der Ukraine vermeldet. Beide Male tauchte Prigoschin später lebend wieder auf.

Wer war noch an Bord?

Unter den Toten soll sich auch Dmitri Utkin befunden haben, der mit Prigoschins Unterstützung 2014 die Wagner-Gruppe gegründet haben soll. Utkin, 53, war ein langjähriger Offizier des Militärgeheimdienstes GRU, der in Tschetschenien gekämpft hatte und ab 2013 in die Welt privater Militärfirmen einstieg.

Laut einer Recherche des Dossier Center (finanziert vom ehemaligen russischen Oligarchen Michail Chodorkowski) sympathisierte er mit dem »Dritten Reich«, trug nationalsozialistische Tattoos und gab sich selbst das militärische Rufzeichen Wagner nach Hitlers Lieblingskomponist. Utkin galt als operativer Kommandeur von Wagner, er führte die Truppe an, als sie ab 2014 im Donbass kämpfte, später in Syrien und schließlich in Afrika. Er war das Gesicht der Truppe, als Prigoschin noch jegliche Beteiligung an ihr abstritt – was sich erst ab 2022 änderte.

Utkin soll auch am Wagner-Aufstand in Richtung Moskau führend beteiligt gewesen sein. Im Juli war er in einem Video zu sehen, in dem er Wagner-Kämpfern erzählte, die Zukunft der Privatarmee liege in Afrika.

Außerdem sind laut Agenstwo aus dem Wagner-Umfeld zudem ein Kameramann, ein Sicherheitsbeamter und ein Mann, der Prigoschins Reisen organisierte, an Bord gewesen. Die Luftfahrtbehörde teilte mit, dass sich zwei Piloten und eine Flugbegleiterin im Flugzeug befanden.

Wie machte Prigoschin sich bei Putin zunächst beliebt?

Die von Prigoschin aufgebaute Söldnertruppe Wagner erfüllte für Russlands Staatsmacht zunächst inoffizielle Spezialaufträge in Syrien, später auch in mehreren Staaten Afrikas, und kämpfte schließlich in der Ukraine. Mit der Vormachtstellung seiner Söldner in mehreren afrikanischen Ländern schien er noch immer essenziell für den Kreml. Zumal die Arbeit der Wagners nicht nur finanziell lukrativ ist, sondern auch den Einfluss Russlands außerhalb der eigenen Grenzen stärkt.

Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine waren Prigoschin und die Kämpfer seiner Privatarmee Wagner nach Ansicht vieler Experten lange für viele der wenigen Erfolgserlebnisse Russlands verantwortlich. Eine große Rolle haben sie insbesondere bei der verlustreichen Eroberung der Stadt Bachmut gespielt.

Wie machte Prigoschin sich bei Putin unbeliebt?

Auf den Tag genau zwei Monate vor Prigoschins mutmaßlichem Tod meuterten die Wagner-Truppen und marschierten auf Geheiß ihres Chefs auf Moskau zu. Für Russlands Präsidenten Wladimir Putin war es eine beispiellose Erschütterung seiner Machtposition. Er nannte Prigoschin einen Verräter. Auch wenn sich beide Männer später noch mindestens einmal trafen, gingen viele Experten davon aus, dass Putin seinem ehemaligen Vertrauten den Ungehorsam nicht verzeihen werde. Zuvor hatte Putin Prigoschin für die Beendigung des Aufstands Straffreiheit bei einer Ausreise nach Belarus zugesichert.

Wie sind die Reaktionen in Russland?

Aus dem Kreml gibt es noch keine Stellungnahme zum mutmaßlichen Tod von Putins ehemaligen Vertrauen. Militärblogger und Wagner-Mitglieder haben in ersten Reaktionen wütend reagiert. Sie geben der Führung in Moskau die Schuld für Prigoschins Ableben. »Der Mord an Prigoschin wird katastrophale Folgen haben«, schrieb der Militärjournalist Roman Saponkow auf Telegram. »Die Leute, die den Befehl gegeben haben, verstehen nichts von der Stimmung in der Armee und ihrer Moral.« Prigoschin war wegen seiner Kritik an der regulären Armeeführung und einigen Erfolgen seiner Söldner auf dem Schlachtfeld beliebt bei Soldaten.

Ein anderer Kanal schreibt: »Möge dies eine Lehre für alle sein. Es ist immer notwendig, bis zum Ende zu gehen.« Damit bezieht er sich offenbar darauf, dass Prigoschin den Aufstand seiner Wagner-Söldner noch vor Moskau stoppte.

Der kremltreue russische Fernsehsender Zargrad stellte ebenfalls den Verdacht eines Mordkomplotts gegen Prigoschin in den Raum. Er gab aber dem ukrainischen Militärgeheimdienst die Schuld am Absturz des Flugzeugs.

Vor dem ehemaligen Wagner-Zentrum in Sankt Petersburg legten am Mittwochabend teils vermummte Männer mit und ohne Wagner-Abzeichen rote Nelken und Wagner-Abzeichen nieder. Prigoschin war nicht nur bei seinen Anhängern beliebt, sondern ihm gehörten auch die Sympathien vieler Russinnen und Russen. Als die Wagner-Truppen vor zwei Monaten die Stadt Rostow am Don besetzten, wurde die Söldner von den Einwohnern der Stadt teils gefeiert.

Wie reagiert die Ukraine?

Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak erklärte in Kiew, es sei offensichtlich, dass Putin niemandem für jene Angst vergeben werde, die ihm die Meuterei eingeflößt habe. Prigoschins Schicksal sei ein Signal an die russische Elite, dass jede Illoyalität mit dem Tod bestraft werde.

Zuvor schrieb Podoljak auf der Plattform X (vormals Twitter), dass Prigoschin mit der Unterzeichnung der Garantien von Lukaschenko, ihm Exil zu gewähren, sein eigenes Todesurteil unterschrieben habe.

Der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Andrij Jermak, verbreitete über seinen Telegram-Kanal lediglich die Audiospur des AC/DC-Klassikers »Highway to Hell«.

Wie reagiert der Westen?

US-Präsident Joe Biden schien sich nicht über Prigoschins Flugzeugabsturz zu wundern. Er wisse nicht genau, was passiert sei, sei aber nicht überrascht, sagte Biden am Rande eines Urlaubs im US-Bundesstaat Kalifornien. Auf die Frage von Reportern, ob der Absturz seiner Ansicht nach auf das Konto Putins gehe, sagte Biden: »Es gibt nicht viel, was in Russland passiert, hinter dem Putin nicht steckt.« Er wisse aber nicht genug, um die Frage beantworten zu können.

Auch deutsche Politiker haben sich geäußert. »Dass Prigoschin seinen Angriff auf Putin mit dem Leben bezahlen wird, davon war auszugehen«, sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland am Mittwochabend. Sie sprach mit Blick auf Prigoschin von einem »Teufel, der sich mit dem Teufel einlässt«. Es zeige aber auch, »dass offensichtlich große Nervosität bei Putin und seinen Schergen im Kreml herrscht«, fügte sie hinzu.

Der CDU-Außenpolitiker und Bundestagsabgeordnete Norbert Röttgen sieht Präsident Putin auch nach dem Tod Prigoschins geschwächt. »Entweder Putin oder Prigoschin – das blieb die Lage auch nach dem abgesagten Putsch«, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. »Ob die von Putin enthauptete Wagner-Gruppe sich nun erst recht zur Rebellion formiert oder sich führungslos fügt, ist eine offene Frage. Das Machtsystem Putins aber hat Risse bekommen, und das kann er nicht mehr stoppen.«

Wie geht es weiter mit Russlands Einfluss in Afrika?

Politisch sind die Kooperationen mit der Zentralafrikanischen Republik, Mali und den anderen Sahelstaaten für den Kreml äußerst wichtig. Wie dort auf ein eventuelles Machtvakuum bei der Wagner-Truppe reagiert wird, ist noch unklar.

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Author: Jeremiah Abshire

Last Updated: 20/09/2023

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